Mittwoch, 4. Juni

Fatum fulmine mutari non potest. Quidni? Nam fulmen ipsum fati pars est.

Durch den Blitz kann sich das Schicksal nicht ändern. Und warum nicht? Weil auch der Blitz zum Schicksal gehört.

57

Verloren stand Kjell inmitten der Morgenroutine. Barbro traf wie so oft mit ihrem fahlen Aufwachgesicht, das einem verhangenen Fenster glich, im Büro ein, zog nach einem knappen Gruß ihre Jacke aus und überflog dann die eingetroffenen Nachrichten im Stehen. Auch Henning saß als Teil dieser gespenstischen Normalität an seinem Schreibtisch und kümmerte sich um die Ermittlungsakte. Immer wenn sein Blick zufällig die Kaffeetasse streifte, geriet er vor gespielter Freude ganz aus dem Häuschen und genoss einen Schluck, weil er wusste, wie wütend diese Albernheiten Barbro am Morgen machten.

Es gab weder Anrufe noch andere Nachrichten. Dabei hatte Kjell erwartet, dass am Morgen ein Sturm losbrach. Er setzte im Besprechungsraum den zweiten Kaffee auf und verbrachte die Wartezeit am Fenster, wo er den Autos in der Polhemsgatan beim Parken zusah. Der Himmel war trüb und vogellos.

„Jaha, du! Stehst du schön am Fenster und schaust hinaus!“

Kjell fuhr herum. Sofi war von oben bis unten schwarz gekleidet, aber an ihr bedeutete diese Farbe immer das Gegenteil. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Sie öffnete eine Tüte aus der Bäckerei und schüttete ein Dutzend Mazariner auf einen Teller.

„Wie ist die Lage? Alles bestens?“

„Ungewiss“, antwortete Kjell. „Wir warten auf Per.“

Inzwischen arbeiteten sie über ein Jahr zusammen, und Kjell konnte sagen, dass Sofis Leben im Wesentlich nur aus Warten auf den nächsten Ausnahmezustand bestand. Das waren für sie Momente zum Glücklichsein.

Per Arrelöv traf pünktlich um acht Uhr ein. Das brachte auch Barbro und Henning dazu, in den Besprechungsraum herüberzukommen und sich an den Tisch zu setzen. Per erweckte nicht den Anschein, als hätte er in der letzten Nacht geschlafen. Sein schütteres Haar flimmerte statisch aufgeladen in alle Richtungen.

Erschöpft musterte er die dampfende Tasse vor sich, nahm sich dann eines der Mazariner vom Teller und biss hinein. „Die Zweige im Koffer stammen von derselben Birke wie der Speerschaft. Der Koffer selbst ist aus schwarzlackiertem Aluminium. Offenkundig industriell gefertigt, aber wir haben noch nicht herausgefunden, woher er kommt. Vermutlich aus Italien.“

Interessant waren also nur die Fingerabdrücke. Per hatte dazu eine übersichtliche Tabelle gezeichnet. Der Speerwerfer hatte den Speer angefasst, aber keine Spuren auf dem Fund aus dem Schließfach hinterlassen. Auf Speer und Koffer fanden sich zudem Abdrücke anderer Personen, ohne dass Per auch nur einen dieser Abdrücke zuordnen konnte. Sicher war nur eines: Die von Fabia Terni und Massimo Maero waren nicht darunter.

„Und auf den Fasces?“, wollte Sofi wissen.

„Auf den Zweigen ist kaum etwas. Das Metall ist mit Pech überzogen. So wie die Speerspitze. Darauf haben wir ja ebenfalls nichts gefunden. Anscheinend wurde es poliert. Ich habe jetzt alles ins Labor geschickt, aber ihr könnt davon ausgehen, dass die Beile auch aus Kupfer gegossen sind. Blatt und Stiel, beides ist aus einem Guss.“ Per schlug seine Mappe auf. „Und nun zum Tatort. Wenn ihr dem Spuk nicht schnell ein Ende macht, gibt es in Schweden bald keine Birken mehr. Der Hammer ist eindeutig die Tatwaffe und nicht nur eine Dekoration des Tatorts.“

Kjell prüfte Sofis Augen auf Anzeichen von Enttäuschung. Sie hatte sich mehr von dem Koffer erhofft.

Sie verstand seinen Blick. „Der Koffer kann ohnehin nicht das Objekt sein, auf das sich die Gier richtet.“

„Und warum nicht?“

Sofi sah auf ihre Notizen. Offenkundig hatte sie darüber bereits in Form einer Liste nachgedacht. „Weil das Objekt an jenem Abend in der Bibliothek übergeben wurde oder werden sollte. Wenn Fabia sich dort mit Maero getroffen hat, warum hat er ihr den Schlüssel dann nicht schon früher in der Botschaft gegeben?“

„Wenn ihr mich fragt“, sagte Henning. „Dann ist die Sache so ähnlich wie mit dem Speer gelaufen. Maero und Fabia haben den Schlüssel in einem Brief bekommen. Er kann zum Beispiel ursprünglich in dem Kuvert gesteckt haben. Maero fährt zum Bahnhof, öffnet das Schließfach und erhält die Botschaft.“

Sofi nickte eifrig. „Da hast du recht. Nur dass Maero und Fabia den Schlüssel zwar erhalten haben, jedoch nicht mehr dazu gekommen sind, einen Blick ins Schließfach zu werfen. Denn das Fach wurde ja schon vor dem Treffen der beiden in der Botschaft gemietet. Maero hat Fabia vielleicht hingeschickt. Und weil es dazu nicht kam, inszenierten ihre Gegner den Vorfall mit dem Speer. Als Ersatz sozusagen.“

„Gutes Szenario“, fand Kjell. „Die Sache hat nur einen Haken. Warum hat Fabia den Schlüssel der armen Lovisa zugesteckt?“

„Fabia wusste noch gar nicht, was in dem Schließfach auf sie wartete. Sie ging davon aus, dass das Objekt der Gier darin sein würde.“

„Jetzt hast du den Haken nur vergrößert, Sofi. Fabia kann kaum gewollt haben, dass Lovisa das Objekt bekommt.“

„Doch. Sie hat nicht vorhergesehen, dass das Auto sie töten würde. Anscheinend hat sie nur die Verfolgung bemerkt. Ihr Plan war also, sich den Schlüssel später wiederzubeschaffen.“

„Hoffentlich kommen die Videobänder vom Bahnhof bald“, sagte Kjell. „Wenn wir wissen, wer das Schließfach gemietet hat, wird die Sache vielleicht klarer.“

„Wahrscheinlich werden wir wieder den Bärtigen sehen“, vermutete Sofi und schaukelte mit ihrem Stuhl. „Der taucht überall auf.“

Inzwischen konnte Suunaat die Todeszeit Maeros auf die frühen Morgenstunden zwischen fünf und acht Uhr eingrenzen. Unter der Voraussetzung, dass Maero bald nach seinem Tod auf die Terrasse in Waldemarsudde gelegt worden war. Die Suche nach Tätern und Spuren in der Umgebung hatte bis jetzt nichts ergeben. Pers Stimme riss Kjell aus seinen Gedanken.

„Der Bärtige hat Maero erschlagen. Seine Fingerabdrücke sind auf dem Hammer. Und nur seine.“

„Warum sagst du das erst jetzt?“

„Na ja, ich wollte mir den Höhepunkt bis zum Schluss aufheben. Ist doch menschlich, oder?“

„Fügt sich ganz gut zu dem Vorfall in der Botschaft“, fand Barbro und zuckte mit den Schultern.

Sofis Stuhl wippte mit einem dumpfen Knall nach vorn. „Fügt sich nicht! Charun hat zwar Maero umgebracht, aber nicht Fabia. Er war ja kurz nach dem Knall bei der Leiche und hat sie durchsucht.“

Henning räusperte sich. „Ich frage mich nur warum. Seine Fingerabdrücke waren ja auf dem Kuvert. Also hatte er es schon früher einmal in der Hand.“

„Er hat nicht nach dem Kuvert gesucht“, sagte Kjell. „Kannst du dich noch an Idas Idee erinnern? Charun und Vanth?“

Draußen klopfte jemand mit Wucht gegen die Glastür. Das konnte nur Tomas sein. Nachdem Barbro aufgesprungen und zur Tür gegangen war, erschien tatsächlich Tomas, doch ohne die übliche Jovialität.

„Ich komme gerade aus Rosenbad“, sagte er grußlos. „Die Regierung hat angeordnet, dass wir unsere Ermittlung einstellen.“

Alle schwiegen. Tomas nutzte die Stille, um sich einen Stuhl unter dem Tisch hervorzuziehen und Platz zu nehmen. Wahrscheinlich wollte er damit seine Solidarität demonstrieren.

„Ich kann nichts machen. Die Anordnung kommt direkt vom Staatsminister.“

„Warum denn ausgerechnet jetzt?“, jammerte Kjell. „Als Maero noch am Leben war, hätte ich es ja verstanden, wenn die Regierung Rücksicht auf Italien genommen hätte. Aber jetzt ist Maero tot.“

„Ich glaube nicht, dass die Rücksicht den Italienern gilt. Die sind nach wie vor sehr interessiert an der Auflösung, unabhängig von den möglichen Konsequenzen. Das kommt nicht von dort.“

„Vielleicht hat der Staatsminister sein Urteil ohne fremden Einfluss gefällt?“

Alle starrten Sofi an.

„Nein nein“, erklärte Tomas. „Soweit wollen wir nicht gehen! Sein Einblick in die Details reicht nicht. Er würde dieses Urteil nicht fällen, ohne sich vorher mit mir zu beraten. Normalerweise gebe ich eine Empfehlung ab, und in diesem Fall habe ich empfohlen, die Ermittlung ohne Rücksicht fortzuführen. Das ist bei heiklen Fällen immer am besten.“

Henning stand abrupt auf. „Also nimmt jemand Einfluss, den wir noch gar nicht auf der Rechnung haben?“

Tomas nickte mit ehrlicher Ratlosigkeit.

03 - Der kopflose Engel
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